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21.08.2018
Schadensabwicklung nach Autounfall
So tricksen die Versicherer
Wer ohne Schuld in einen Unfall verwickelt wird, geht am besten zum Anwalt. Der Jurist ist für Geschädigte gratis. Viele Versicherer kürzen sonst dreist die Erstattung. Hier lesen Sie, mit welchen Tricks die Versicherer arbeiten, wie man als Geschädigter nicht auf Kosten sitzen bleibt, wann ein Mietwagen als Ersatz drin ist und was man unmittelbar nach dem Unfall unbedingt beachten sollte.
„Der Alfa ist Schrott“
Zuerst war der Schreck groß: Eine Studentin war Ulrich Seilkan ins Auto gefahren. Das Heck seines schwarzen Alfa sah übel verbeult aus. Doch wenig später meldete sich die Kfz-Versicherung der Frau: „Keine Sorge, wir regeln alles.“ Gutachten, Werkstatt, Mietwagen – er brauche sich um nichts zu kümmern: „Wir stellen Ihnen Ihr Auto repariert und frisch gewaschen wieder vor die Tür.“ Das klang super. Doch repariert und gewaschen wurde nichts. Der Alfa sei Schrott, meinte die Versicherung. Ein Gutachter schätzte die Reparatur auf 4 340 Euro. Der Wagen sei aber nur 3 900 Euro wert. Die Versicherung zahlte 2 350 Euro, weitere 1 550 Euro sollte Seilkan von einem Schrotthändler erhalten.
Ein Anwalt holt die geforderte Summe
Damit war er nicht einverstanden. Sein Verdacht: Die Versicherung setzte den Wert des Alfa extra niedrig an. Seilkan ging zu einem Anwalt für Verkehrsrecht. Das war richtig. Fachjuristen wissen, welche Ansprüche Geschädigte haben – sie kennen sich mit Haushaltsführungsschäden und dem „merkantilen Minderwert“ ebenso aus wie mit der Reparatur in der Markenwerkstatt.
Vor allem kennen Anwälte die Tricks der Versicherer. So war es auch bei Seilkan. Er durfte doch eine Reparatur verlangen. Denn deren Kosten lagen nicht über 130 Prozent des Fahrzeugwerts. Erst darüber gilt eine Reparatur als unwirtschaftlich. Der Anwalt holte für den Berliner die vollen 4 350 Euro heraus.
Unser Rat
Anruf. Sie sind schuldlos in einen Unfall verwickelt? Lassen Sie sich auf nichts ein, wenn die gegnerische Versicherung schon am Unfallort anruft. Sie ist weder Ihr Partner noch Ihr Helfer. Der Sachbearbeiter will die Erstattung gering halten.
Anwalt. Regeln Sie nicht alles selbst. Gehen Sie auch beim Blechschaden besser zum Rechtsanwalt. Trifft Sie keine Schuld, muss der gegnerische Versicherer das Honorar zahlen. Wenden Sie sich an einen Fachanwalt für Verkehrsrecht. Das Portal anwalt-suchservice.de ist bei der Suche im Internet hilfreich.
Gutachter. Nehmen Sie nicht den Sachverständigen der gegnerischen Versicherung. Beauftragen Sie selbst einen – außer bei Bagatellen unter 1 000 Euro.Achtung: „Kfz-Sachverständiger“ kann sich jeder nennen. Der Titel ist nicht gesetzlich geschützt. Fragen Sie den Sachverständigen-Bundesverband BVSK. Dessen Mitglieder sind Ingenieure oder Kfz-Meister.
Werkstatt. Einige Werkstätten bieten „Rundum-Sorglos-Pakete“ einschließlich Mietwagen, bei denen sie die Regulierung erledigen. Doch auch Werkstätten verfolgen ihre eigenen Interessen, nicht Ihre.
Nicht auf das Bequemlichkeits-Versprechen reinfallen
Was Seilkan erlebt hat, ist typisch. Nach einem Verkehrsunfall versuchen Versicherer mit vielen Tricks, die Entschädigung möglichst niedrig zu halten. Erste Maßnahme: Sie wollen schnell Zugriff auf den Geschädigten bekommen. Mitunter rufen sie noch direkt am Unfallort an und versprechen: „Wir zahlen alles, übernehmen die komplette Abwicklung, ersparen Ihnen Stress.“
Doch das kann teuer werden. Versicherer wollen schnell an den Geschädigten heran, damit er sich gar nicht erst über seine Rechte informiert. So können sie viele Ansprüche unter den Tisch fallen lassen. Regelt die gegnerische Versicherung alles, bleibt für den Autobesitzer ungewiss, ob die Werkstatt neue Teile einbaut oder gebrauchte oder das verbogene Teil wieder zurechtdengelt.
Vorsicht mit fremdem Versicherer
Deshalb lautet die oberste Regel nach einem unverschuldeten Unfall: nicht den gegnerischen Versicherer kontaktieren. Er ist nicht Partner des Geschädigten, schon gar nicht Helfer, sondern will die maximal mögliche Ersparnis für sich selbst herausholen. Auch keine gute Idee ist es, einer Werkstatt die Schadenabwicklung zu überlassen. Viele bieten Rundum-Sorglos-Pakete inklusive Mietwagen. Doch auch die Werkstatt verfolgt ihre eigenen Interessen.
Ein Anwalt auch für kleine Schäden
Besser geht man zum Anwalt – selbst wenn die Schuldfrage klar ist und der Versicherer erklärt, er werde alles bezahlen. Jeder Geschädigte hat das Recht, sich auf Kosten des Gegners einen Anwalt zu nehmen. Es kommt nicht auf die Schadenhöhe an. Das Amtsgericht Dortmund erklärte: „Jeder Geschädigte ist gut beraten, selbst bei kleinen Schäden einen Anwalt zu nehmen“. Es ging um 645 Euro (Az. 431 C 2044/09). Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main nannte es sogar fahrlässig, keinen Anwalt einzuschalten (Az. 22 U 171/13).
Der Anwalt kostet den Geschädigten nichts, sofern ihn keine Teilschuld trifft. Wer hingegen den Unfall mitverursacht hat, muss sich an den Anwaltskosten beteiligen. Aber gerade auch wenn die Schuldfrage strittig ist, wird man kaum ohne Anwalt auskommen.
Viele Unfallopfer wollen die Sache selbst regeln und wegen Kleinigkeiten keinen Juristen hinzuziehen. Doch der Sachbearbeiter der gegnerischen Versicherung ist ihnen weit überlegen. Er ist geschult, bei der Entschädigung zu sparen. Die Versicherer kürzen systematisch, auch bei Kleinigkeiten.
Rechtsschutz und Anwalt – mehr Infos auf test.de
Rechtsschutzversicherung. Auch wenn der Anwalt Geschädigte nichts kostet – wenn Sie eine gute Rechtsschutzversicherung suchen, finden Sie gute Policen im Vergleich Rechtsschutzversicherung. Die Stiftung Warentest hat übrigens auch Verkehrsrechtsschutzpolicen getestet.
Anwaltssuche. Wie Sie den richtigen Anwalt finden, lesen Sie im Special Der beste Weg zum Anwalt.
Autoversicherung. Alles was Sie generell über die Autoversicherung wissen sollten, lesen Sie im Basiswissen Autoversicherung auf test.de. Günstige Policen für Ihren persönlichen Bedarf finden Sie mithilfe unseres Kfz-Versicherungsvergleichs.
An der Autowäsche gespart
Ein Fall in Düsseldorf: Nach einem heftigen Parkrempler belief sich der Schaden laut Gutachten auf 5 731 Euro. Doch die Versicherung kürzte 175 Euro fürs Lackieren der Türgriffe, 242 Euro für ein Plastikteil am Radhaus, 192 Euro für die Achsvermessung, 44 Euro für die Autowäsche – alles angeblich unnötig. Dasselbe mit einer Dichtung, einer Chromleiste und Kleinteilen. Zusätzlich kürzte sie 343 Euro am Mietwagen, 57 Euro am Anwaltshonorar – alles in allem 1 335 Euro. Das war rechtswidrig. Sie musste alle Beträge nachzahlen (Amtsgericht Düsseldorf, Az. 37 C 11789/11).
Computer spuckt Kürzungen aus
Für den Berliner Fachanwalt für Verkehrsrecht Marcus Gülpen sind solche Probleme Alltag: „Reicht der Geschädigte ein Gutachten ein, geben die Versicherer es an externe Firmen weiter, die es durch eine Spezialsoftware laufen lassen.“ Die spuckt zahlreiche Kürzungen aus, oft ohne jede Rechtsgrundlage.
Grundsätzlich gilt: Der Geschädigte darf sich auf das verlassen, was in dem Gutachten steht. Als technischer Laie kann er nicht beurteilen, welche Reparaturen nötig sind. Die Werkstattrechnung reicht als Indiz, meint das Oberlandesgericht (OLG) Celle. Das Risiko einer überhöhten Rechnung trägt nicht er, sondern die Versicherung (Az. 14 U 37/17). Angesichts ihrer Methoden warf das Amtsgericht Eisenach den Versicherungsgesellschaften sogar eine „Nichtregulierungspraxis“ vor (Az. 57 C 175/16).
Eigenen Gutachter nehmen
Weitere wichtige Regel: nicht den Gutachter des gegnerischen Versicherers einladen. Stattdessen dürfen Geschädigte auf Kosten des Versicherers selbst ein Gutachten beauftragen. Nur bei Teilschuld müssen sie einen Anteil selbst zahlen.
Anders als bei den Anwaltskosten kommt es beim Gutachten aber auf die Schadenhöhe an. Voraussetzung dafür, dass die gegnerische Versicherung zahlen muss, ist ein Schaden von mindestens 1 000 Euro. Darunter reicht ein Kostenvoranschlag der Werkstatt. Einige Gerichte sehen die Grenze bei 1 500 Euro.
Wenn der Versicherer aber einzelne Positionen im Voranschlag kürzt, darf der Geschädigte einen Gutachter beauftragen. Dann gilt die Bagatellgrenze nicht mehr (Amtsgericht Bamberg, Az. 0102 C 569/14).
Der Geschädigte muss auch nicht Preise vergleichen, um einen besonders günstigen Gutachter zu finden. Der Preis darf nur nicht offensichtlich überhöht sein (Bundesgerichtshof [BGH], Az. VI ZR 61/17).
Wer der Versicherung erlaubt, ihren Gutachter zu schicken, bekommt oft ein Problem. Viele Gerichte meinen, man dürfe dann nicht zusätzlich selbst einen Experten beauftragen (Amtsgericht Wuppertal, Az. 32 C 8/14).
Anders ist das, wenn das Versicherungsgutachten klare Fehler enthält: Ein Münchener hatte sich gewundert, dass der Sachverständige einige Schäden gar nicht berücksichtigt hatte, und beauftragte einen zweiten Experten. Der fand weitere Schäden. Die Versicherung musste auch den Zweitgutachter bezahlen (Amtsgericht München, Az. 335 C 7525/17).
Vorsicht bei der Nachbesichtigung
Es ist nicht nötig, der Versicherung den Gutachtertermin zu nennen, damit sie teilnehmen kann. Als Ersatz will sie dann gern ihren Sachverständigen zur Nachbesichtigung schicken. Das geht aber nur, wenn sie einen konkreten Grund hat. Der Hinweis, das fremde Gutachten sei unklar, reicht nicht, so das Landgericht (LG) Berlin (Az. 42 0 22/10).
Das Ganze kann einige Zeit dauern. Meist darf der Versicherer sich vier bis sechs Wochen Zeit lassen für die Schadenregulierung. Nach Erstellen des Gutachtens sollte man schon das Auto reparieren lassen. Weil eine Nachbesichtigung dann unmöglich ist, sehen einige Versicherer das als Beweisvereitelung. Da sind Gerichte anderer Ansicht: „Dem Geschädigten ist nicht vorzuwerfen, dass er die Reparatur unverzüglich beauftragt hat – schon weil so Mietwagenkosten verringert wurden“ (LG Ellwangen, Az. 3 O 439/12).
Bei diesen Posten kürzen Versicherer gerne
Weitere typische Positionen, an denen die Versicherer gern kürzen:
Werkstatt. Markenwerkstätten sind oft teurer als freie Werkstätten. Solche Kosten müssen Versicherer nur zahlen, wenn der Wagen nicht älter als drei Jahre ist (BGH, Az. VI ZR 267/14) oder wenn der Geschädigte sein Auto bisher stets in eine Markenwerkstatt brachte. Es reicht nicht, wenn er ihn dort nur reparieren ließ, Wartungen aber eine freie Werkstatt gemacht hat (BGH, Az. VI ZR 182/16).
Verlangt der Versicherer die Reparatur in einer freien Werkstatt, muss sie nah genug sein, 21 Kilometer sind zu weit (BGH, Az. VI ZR 91/09). Zu weit ist es auch, wenn der Versicherer den Wagen abholt und in eine 130 Kilometer entfernte Werkstatt bringt. Denn der der Geschädigte müsste in einem Gewährleistungsfall hinfahren (BGH, Az. VI ZR 267/14).
Abschleppen. Die Versicherung muss die Kosten tragen. Der Geschädigte braucht in der Regel keine Preisvergleiche anzustellen, da meist Eile nötig ist. Liegt die Heimatwerkstatt 120 Kilometer entfernt, darf er den Wagen dorthin bringen, wenn er auch bisher dort war (Amtsgericht Rosenheim, Az. 8 C 90/17).
Anmeldekosten. Kauft der Geschädigte sich nach einem Totalschaden ein neues Auto, darf er das Autohaus mit der Anmeldung beauftragen. Vor dem Amtsgericht Biberach ging es um 45 Euro (Az. 8 C 921/16).
Beilackierung. Muss ein Fahrzeugteil neu lackiert werden, trifft der Farbton oft nicht exakt den der Karosserieteile daneben, weil sie altersbedingt ausgeblichen sind. Dann lackieren Werkstätten deren Ränder mit, sodass der optische Übergang nicht auffällt. Diese Beilackierung muss der Versicherer bezahlen (Amtsgericht Meiningen, Az. 13 C 861/14).
Haushaltsführungsschaden. Wurde der Geschädigte verletzt und braucht im Haushalt Hilfe, muss die Versicherung dies ersetzen – auch wenn niemand eingestellt wurde, sondern Familienmitglieder oder Freunde aushelfen (BGH, Az. VI ZR 183/08).
Kostenvoranschlag. Verlangt die Werkstatt dafür Geld, muss der Versicherer es erstatten (Landgericht Hildesheim, Az. 7 S 107/09).
Kleinteile. Sieht das Gutachten eine Pauschale vor, muss der Versicherer zahlen (LG München I, Az. 19 S 1991/16). Das gilt auch für die oft 10-prozentigen Aufschläge, die Werkstätten gern für Ersatzteile nehmen, um so ihre Lagerkosten zu decken (Oberlandesgericht Düsseldorf, Az. I-1 U 108/11).
Merkantiler Minderwert. Nach einem Unfall ist das reparierte Fahrzeug weniger wert als ein unfallfreies. Diesen Wertverlust muss die Versicherung ausgleichen.
Neu für Alt. Werden Verschleißteile ersetzt, die eine Wertverbesserung des Pkw bringen, darf der Versicherer einen Teil der Rechnung abziehen. Beispiel: Ein alter Reifen, den der Besitzer ohnehin bald hätte wechseln müssen, wird beim Unfall aufgeschlitzt, ein neuer aufgezogen. Die Versicherung darf einen Abzug vornehmen. Wird aber ein alter Stoßfänger ersetzt, ist das keine Wertverbesserung (Amtsgericht Darmstadt, Az. 308 C 52/14).
Restwert. Nach einem Totalschaden muss der Geschädigte nicht nach Aufkäufern mit besonders hohen Preisen suchen. Er darf den Schrott zu dem Preis im Gutachten verkaufen (BGH, Az. VI ZR 132/04).) Er muss nicht auf ein Gegenangebot des Versicherers warten.
Standgeld. Bei Totalschaden verlangen viele Werkstätten ein Standgeld, wenn das Auto dort steht, oft 10 Euro pro Tag. Dies muss die Versicherung ersetzen – auch wenn es 38 Tage sind, weil die Leasinggesellschaft die Zulassungsbescheinigung nicht eher herausgab (Amtsgericht Cuxhaven, Az. 5 C 538/16).
Verbringungskosten. Nicht jede Werkstatt hat eine eigene Lackiererei. Muss sie den Wagen zum Lackierer wegbringen, hat der Versicherer die Transportkosten zu erstatten (OLG Düsseldorf, Az. I-1 U 140/09).